Wo wir hingehören

Text von Caro, Illustration von Lena

Mimi rauchte so viel, sie war praktisch ein Schornstein, dauerqualmend. Die eine Zigarette noch in der Hand, zündete sie sich bereits die nächste an. Wir wurden Freunde in der Sucht, denn Dünn sein ist schließlich auch eine Droge. Und so zogen wir Nacht für Nacht los, zwei junge Mädchen auf der Suche nach irgendwas, was uns lebendig machte und uns gleichzeitig unsere eigene Sterblichkeit vor Augen führte. Ohne Plan, ohne wirkliches Ziel, Hauptsache, wir waren in Bewegung.
Miese Parties in finsteren Hauskellern bringen dich den Menschen näher. „Die Erwachsenen, die wollen einen immer nur einsperren, verbiegen, ausbeuten. Aber ich sag euch was – je fester die mich anketten, desto eher reiß ich mich los.“ Starke Worte, unter Alkoholeinfluss gesprochen. Beeindruckte Gesichter, zu Gehirnen gehörend, die nur noch um die Ecke denken können.
Ein Edding ist auch eine Waffe. Und Betonwände seine Schlachtfelder. Gedichte in der Stadt verteilt, vom leisen Schrei der ewig Ungehörten, doch wer liest schon was unter Brücken steht? Eher noch was auf ihnen steht. Mach das mal ein halbes Jahr lang jeden zweiten Tag, betrunken über die Missstände in dieser Welt diskutieren, zu viel rauchen, und zu wenig kiffen, um dem Ganzen entspannt gegenüberzustehen. Schreib mal ein halbes Jahr lang jeden zweiten Tag nach solchen Nächten Gedichte, auf die klotzigen Wahrzeichen des Kapitalismus geschmiert, gut gemeint, aber alle schlecht formuliert, weil man zu müde und zu benebelt ist, bloß inspiriert vom Morgengrauen. Da kann man nur zur Anarchistin werden.
Nach diesem halben Jahr waren wir also ziemlich fertig. Wir wussten schon, das System war falsch, und überhaupt, man musste daraus ausbrechen. Aber was genau jetzt so falsch lief – letzte Nacht vergessen. Und zum Ausbrechen hatten wir auch keine Zeit, denn neben all den Parties, anstrengenden Gesprächen, dem Alkohol, den Drogen, dem Gedichte schreiben mussten wir auch noch zur Schule gehen, auch wenn die zum System gehörte, und lernen, auch wenn wir uns damit dem System beugten, und Zeit mit unseren Familien verbringen, auch wenn das total veraltet und systemtreu war, und Musik hören und ins Kino gehen und Kaffee trinken, auch wenn das nicht sehr produktiv war und das System auch nicht untergrub. Aber mein Gott. Oder, äh, Gott war ja eigentlich auch Teil des Systems. Also aber was solls. Wir waren ja auch nur Menschen.
Im Endeffekt guckten wir halt doch lieber „Berlin Tag & Nacht“, statt DIE Revolution zu starten. War bequemer. Einfacher. Und überhaupt, nach einem langen Schultag inklusive Lernen hatte man für so anstrengende Aktionen auch gar keine Nerven mehr. Wir fühlten uns klug und wichtig, wenn wir, uns an unsere Zigaretten und Weingläser klammernd, auf alten Sofas hockten und groß daherredeten von Veränderung und sozialen Umstürzen. Und morgens gingen wir nach Hause, legten uns schlafen, machten die Augen zu vor dem Morgen, der Realität, der Welt, unseren eigenen Behauptungen. So ging das dieses halbe Jahr dahin, bis einer von uns tatsächlich was tat, zumindest versuchte, seine großen Worte in die Tat umzusetzen, und dabei ordentlich Scheiße baute, und alles auseinanderfiel.

Der Anfang vom Ende kam ziemlich überraschend. Ich kannte den Typen, der alleine revoltierte, nicht wirklich. Er war halt auch da, in unserer großen Runde, wenn wir diskutierten und rauchten und tranken. Aber ich wusste nicht, wie er hieß, wer ihn mitgebracht hatte oder ob er alleine gekommen war. Störte mich nicht. Er war eben auch dabei. Als ich eines Vormittags, den ich eigentlich durchschlafen wollte, einen aufgeregten Anruf von Mimi, meiner Freundin in der Sucht, bekam und sie irgendetwas redete von wegen, Alex hätte eine Kirche abgefackelt, kannte ich  mich erstmal also gar nicht aus.
„Warte - WER hat WAS getan?“ Müde setzte ich mich auf.
„ALEX. Du weißt schon, dieser große brünette Typ mit Brille, der nur Weißwein trinkt.“ Ich konnte förmlich sehen, wie sie mit den Augen rollte und natürlich nach ihren Zigaretten suchte, während ich mein noch träges Gehirn nach einer Erinnerung an diesen Alex durchforstete. Eine trübe Gestalt manifestierte sich vor meinem inneren Auge.
„Äh, ja, ich weiß ungefähr, wen du meinst. Und der soll was bitte getan haben?“ Ich streckte mich und lehnte mich ans Kopfteil meines Bettes.
„Er hat eine Kirche abgefackelt. Die Kleine in der Nähe vom Industriegebiet.“
„Waren wir da nicht mal im Sommer grillen?“
„Ja, gleich daneben ist so ein ranziger Campingplatz, da waren wir.“ Wir schwiegen beide kurz und hingen unseren Gedanken an diesen Grillabend nach, der uns beiden nur verschwommen im Gedächtnis geblieben war.
„Aber darum geht’s ja grade gar nicht…“, fuhr Mimi dann hektisch fort, „…sondern es geht darum, dass die Kirche jetzt nicht mehr steht, weil Alex da heute Morgen Feuer gelegt hat.“
Sie begann, mir alles, was sie wusste, ausführlich zu erzählen. Offenbar war Alex an diesem Morgen nach der üblichen Gedichte-Kritzelei  nicht wie wir anderen nach Hause gegangen, sondern mit dem ersten Bus raus an den Stadtrand gefahren. Ob er es geplant hatte oder nicht, irgendwann war er jedenfalls bei der kleinen Kirche angekommen, hatte eine Seitentür aufgebrochen und mit seinem Gratis-Feuerzeug von irgendeiner System-Partei den hölzernen Jesus, das Tuch auf dem Altar, die Sitzkissen und ungefähr so jede Kerze, die er finden konnte, angezündet. Danach war er raus und hatte das Gebäude seinem Schicksal überlassen.
„Das ist ja mal krass!“ war mein wenig taktvoller Kommentar zu dem Vorkommnis. Aber was sollte man auch sonst sagen? „Und jetzt? Ist er verhaftet worden?“ Was unser Brandstifter nämlich gemacht hatte, während das Gotteshaus in Flammen aufging, hatte Mimi nicht erwähnt.
„Eben nicht! Er ist ja abgehauen und hat’s Coco erzählt, und die hat’s Marius erzählt, und der hat’s mir erzählt, aber inzwischen wissen es wohl schon alle. Nur die Polizei nicht. Zumindest noch nicht.“
„Das ist ja noch krasser…“ murmelte ich überrascht.
„Falls sie ihn suchen, wir wissen von nichts.“ Klar. Man konnte seine Leute nicht verraten. Auch wenn man sie nicht wirklich kannte. „Er hat sich was getraut, weißt du? Endlich hat sich einer was getraut.“ fügte Mimi nach kurzem Schweigen hinzu, und ich widersprach ihr nicht, obwohl ich es nicht revolutionär oder sinnvoll fand, Kirchen anzuzünden. Auf die Straße gehen und gegen Atomkraft oder für Tierschutz zu demonstrieren war immer noch effektiver. Aber das. Naja. Eigentlich nur riskant und kostspielig. Klar – das System musste die Feuerwehr bezahlen, die polizeilichen Ermittlungen, vielleicht einen Wiederaufbau der Kirche. Damit hatte man dem System schon eins ausgewischt. Irgendwie zumindest. Im Endeffekt den Steuerzahlern, also im Endeffekt auch uns. Aber das sagte ich alles nicht. Das wollte keiner hören.
Da ich also nichts Wichtiges mehr zu sagen hatte, verabschiedete ich mich von Mimi („Wie kannst du denn jetzt schlafen gehen?? Wo grade was passiert!“), legte das Handy weg und versuchte, wieder einzuschlafen. Aber es wollte mir nicht so recht gelingen. Nach einer Stunde zwischen Wachsein und Träumen, die voller Weißwein und brennender Kreuze waren, beschloss ich, es sein zu lassen. Stattdessen hievte ich meinen dürren Körper unter die Dusche und lies das Wasser so lange auf mich runterprasseln, bis ich mich wieder halbwegs belebt fühlte.

„Hast du’s schon gehört?“ fragte meine Mutter mich, als ich in die Küche getrottet kam.
„Hmmm?“
Sie starrte wie gebannt auf den Bildschirm unseres alten Röhrenfernsehers, über den Bilder einer brennenden Kirche flackerten. DIE Kirche. Eine blonde Reporterin sprach verwirrt ins Mikrofon. Es wurde bereits von Brandstiftung ausgegangen, und offenbar waren die Hauptverdächtigen unbekannte radikalreligiöse Ausländer. Natürlich. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf und goss mir etwas Kaffee ein, den Mama offenbar für sich vorbereitet, nun aber ganz vergessen hatte.
„Wer macht denn sowas…das habe ich noch nie gehört. Einfach so.“ Sie wirkte ernsthaft irritiert. Aber wenn ich genauer drüber nachdachte, hatte ich auch noch nie irgendwo gehört, dass eine Kirche abgefackelt worden war. So in Friedenszeiten. Ohne offensichtlichen Grund. Natürlich kannte keiner den Grund, keiner, außer unserer Diskussionsrunde. Alex kämpfte gegen das System. Oder er bildete es sich zumindest ein. Seufzend setzte ich mich an den Küchentisch und stützte meine Tasse Kaffee auf meinen Knien ab. Inzwischen hielt die blonde Reporterin einem zuständig wirkenden Polizisten das Mikrofon unter die Nase.
„Wir, äh, ja, wir haben bereits Befragungen mit…mit möglichen Zeugen durchgeführt, aber, äh, dabei ist leider noch nichts herausgekommen.“ Er sprach unsicher, so wie alle Polizisten und Feuerwehrleute, die nach einer Katastrophe oder einem Verbrechen vor die Kamera gezerrt wurden, obwohl sie wirklich nicht für die Pressearbeit gemacht waren.
Ich konnte mir schon vorstellen, wen sie befragt hatten. Dort draußen war nie jemand. Höchstens ein paar Obdachlose und zugedröhnte, verlorene Hippies auf dem angrenzenden, wenig ansprechenden Campingplatz. Also allesamt Leute, die der Polizei nicht vertrauten. Und denen es auch scheißegal war, was so rund um sie herum passierte, Hauptsache, man ließ sie in Frieden schlafen oder kiffen oder weiß Gott was tun. Das brachte niemanden weiter. So langsam begann ich mich zu fragen, ob Alex das Gleiche im Kopf hatte, als er zur Tat geschritten war. Wenn ja, dann hatte er sich das nicht schlecht überlegt. Grübelnd rutschte ich auf dem Küchenstuhl hin und her. Meine Arschknochen lagen hart auf dem dunklen Holz auf und schmerzten. Ich kippte schweigend meinen Kaffee hinunter, während meine Mutter immer noch andächtig dem Bericht lauschte und immer wieder „Na sowas, na sowas…“ murmelte. Sie bemerkte es nicht einmal, als ich die Küche wieder verließ.

Mein Handy spielte derweil verrückt, so viele Nachrichten waren darauf eingegangen. Irgendjemand hatte eine Whatsapp-Gruppe gegründet, in der das ganze Vorkommnis diskutiert und Alex als Held gefeiert wurde. Er selbst war natürlich auch Mitglied und schrieb nur immer wieder so kryptische Sachen wie „Es war ein spontaner Akt gegen das System“, und dann schickte jeder andächtige Emojis. Ich brauchte eine halbe Stunde, um den gesamten Chatverlauf zu lesen, und danach schwirrte mir der Kopf. Wären wir doch bloß beim reden, trinken und Gedichte schreiben geblieben.
Aber ich sag euch was: es hat uns nicht gereicht. Oder, es hätte uns gereicht, wenn es Alex gereicht hätte. Irgendwann tut jemand was, und entweder die Gruppe lehnt es ab und verstößt ihn, oder aber sie feiert es hart.
Nur, Alex hat es nicht aus Systemhass oder Überzeugung getan. Ihm war schlicht und einfach langweilig. So wie uns allen. Wir langweilten uns in unseren hübschen, sicheren Erste-Welt-Leben, und wir waren jung und dumm, also gingen wir zu all diesen Parties und ließen  uns von radikalen Ideen anstecken, um sie dann wieder wegzusaufen. Nur manchmal blieb etwas hängen. Und Alex, Alex, der nur Weißwein trank, und zwar nicht den ausm Tetra-Pack, sondern den ausm Fachhandel, diesem Alex war heute Morgen so unfassbar langweilig, weil er nicht zu seinem Studienplatz der Rechtswissenschaften und seinen Eltern aus der Mittelschicht und seinem promiskuitiven, jedoch wenig erfüllendem Liebesleben zurückkehren wollte. Also fuhr er an den Stadtrand und fackelte diese Kirche ab, in der Hoffnung, aus den heiligen Trümmern als ein neuer Alex emporzusteigen. Naja, ich meine, er kam mir nicht vor wie einer, der groß etwas verändern wird, aber er hatte jetzt eine Whatsapp-Gruppe voller Fans, was will man heutzutage mehr?

Sie erwischten Alex tatsächlich nicht. Dies imponierte seinen Jüngern nur noch mehr. An seiner statt wurden eben ein paar Ausländer dritter Generation, die in einem Betrieb nahe der Kirche arbeiteten, fest genommen, einfach, damit die Polizei behaupten konnte, wir haben jemanden. Gerecht war das nicht. Aber Alex, der so gegen das ungerechte System war, kümmerte das nicht.
„Jede Revolution fordert ihre Opfer.“ pflegte er zu sagen, während er an seinem Weißwein nippte, sich mit seinem legendären Gratis-Feuerzeug von irgendeiner System-Partei eine Zigarette nach der anderen anzündete und dann melancholisch Rauchringe gen Zimmerdecke schweben ließ. Irgendwann fing Mimi was mit ihm an, oder er mit ihr, die beiden miteinander eben, und ab da war sie nicht mehr meine Freundin, weder in der Sucht noch irgendwo sonst. Ich kam auch immer weniger zu den Treffen, weil meine persönliche Sucht überhandnahm und ich kaum mehr die Kraft aufbringen konnte, einen normalen Tag zu überstehen, ohne umzufallen. Eines Tages warf man mich aus der Whatsapp-Gruppe. Niemand der Möchtegern-Revolutionäre kam vorbei, als ich im Krankenhaus landete und man mir einen Schlauch in die Nase steckte. Dafür kam jeder von ihnen zu einer alten Lagerhalle aus Kriegszeiten, die Alex als nächstes abzufackeln gedachte.
Ich sah auf dem Bildschirm des Krankenhausfernsehers, wie die Hallte brannte und brannte, als gäbe es kein Morgen mehr. Die gleiche Nachrichtensprecherin wie beim letzten Mal redete etwas von Brandstiftung, nur dass dieses Mal keine Ausländer verdächtigt wurden, sondern…naja, niemand eigentlich. Man hatte auf die Schnelle keinen passenden Sündenbock gefunden. Aber spätestens morgen würde man wieder einen haben. Ich schaltete um, bevor sie wieder einen Polizisten zum Reden zwangen. Das musste ich mir nicht geben. Es war doch immer das Gleiche.

Ich habe Alex nicht verraten. Ich vertraute darauf, dass ihn das System schon fangen oder die Anarchie ihn umbringen würde, irgendwann. Und es kam, wie es kommen musste: Die Revolution frisst ihre Kinder. Man sollte das zu einem Naturgesetz erklären.
Alex wurde an dem Abend unter den Trümmern eines einstürzenden, brennenden Bungalows begraben, dekadentes Zeichen der Oberschicht, an dem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Ich sah den Bericht im Fernsehen, auf genau derselben Stelle sitzend, auf der ich das letzte Mal gesessen hatte, nur, dass meine Arschknochen nicht mehr so unangenehm drückten. Meine Mutter war schockiert, ich nicht.
Ich ging sogar auf Alex‘ Beerdigung. Sie fand ironischerweise in einer sehr schönen, alten Kirche im Stadtzentrum statt. Das fand ich schon fast wieder lustig. Mimi stand ganz vorne. Sie weinte ziemlich heftig, und da stahl ich mich davon, um eine halbe Stunde später in einem Restaurant zu landen, wo ich mir den teuersten Weißwein auf der Karte bestellte und Alex innerlich einen Toast aussprach.
Er hatte nichts bewegt, er hatte nur zerstört, aber im Endeffekt, da kehren wir doch alle brav an unsere angestammten Plätze zurück, die wir ein Leben  lang einnehmen sollen. All die Eskapaden davor sind nur rebellische, romantisch anmutende Intermezzi, und sie sind nie von Dauer. Alex, unser großer, radikaler Held, lag nun also in einem sündteuren Eichensarg in einer Kirche, die von Steuern und Spenden der von ihm verhassten Systemtreuen lebte. Und genau da gehörte er hin.





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