Everything's in order in a black hole

Artikel von Caro, Collagen von Lena

Der folgende Text beschäftigt sich mit Magersucht, kurz auch mit Bulimie, zwei Essstörungen, von denen nicht ausschließlich, aber Großteils junge Mädchen betroffen sind – da wir eine Plattform von Teenagerinnen für Teenagerinnen sind und unser momentanes Thema auch Youth ist, dachte ich, ich schreibe darüber. Ich habe mich sehr bemüht, viele verschiedene Aspekte der Problematik zu beleuchten. Alles Geschriebene basiert auf meinen eigenen Erfahrungen.

Warum
Bei manchen Leuten hat es einen (oder mehrere) konkrete(n) Auslöser für ihre Essstörung gegeben. Manche können die Gründe und Ursachen, die zu ihrer Krankheit geführt haben, benennen. Ich kann das nicht. Natürlich sind im Nachhinein immer Faktoren erkennbar, die dazu geführt haben könnten...aber eigentlich habe ich das Gefühl, ich bin da einfach reingerutscht. Teils unwissentlich, teils ignorant meinem immer manischeren Kontrollzwang gegenüber. Und irgendwann habe ich festgestellt, dass ich das jetzt bin. Essgestört. Einfach so.

„Meine“ Essstörung VS Was andere sich darunter vorstellen
Ich habe zwei Jahre lang an Magersucht und teilweise auch an Bulimie gelitten. Zweiteres konnte ich nie abstreiten, aber ersteres habe ich lange nicht vor mir selbst zugegeben. Nicht, weil ich mich schämte, magersüchtig zu sein – sondern, so verdreht das auch klingen mag, weil ich nie so aussah, als wäre ich es.
Hört man das Wort „Magersucht“, denkt man sofort an Bilder von blassen, abgemagerten Mädchen, deren Knochen überall hervorstehen und die wirken, als würden sie bei der sanftesten Berührung zerbrechen. So habe ich, so hat mein Körper während all dieser Zeit nicht ausgesehen.
Ich war nie dick, sondern immer ganz normal. Durch die Essstörung, mein exzessives Hungern bin ich schon schlanker geworden. In der Therapie haben sie mir gezeigt, wie extrem niedrig mein Fett- und auch mein Muskelanteil geworden sind. Nur richtig dünn oder abgemagert war ich nie, egal, wie sehr ich mich „angestrengt“ habe. Alleine an meinem eingefallenen Gesicht und den schlimmen Augenringen konnten auch Leute, die mir nicht sonderlich nahestanden, erkennen, dass etwas mit mir nicht stimmte.
Erst als meine beste Freundin mir irgendwann ins Gesicht sagte, dass ich verdammt noch mal magersüchtig war, mich der Krankheit entsprechend verhielt, konnte ich auch vor mir selbst zugeben, dass es der Wahrheit entsprach. Man ist niemals „nicht dünn genug“, um krank zu sein. Das ist kompletter Blödsinn.
Was ich hiermit sagen will, ist: Magersucht – Essstörungen im Allgemeinen – sind so komplex, dass man nicht alleine vom äußeren Erscheinungsbild eines Menschen auf eine mögliche Krankheit schließen kann.

Quelle: Tumblr


Ausreden
Ich hab schon gegessen
Sorry, das mag ich nicht so
Mir ist nicht so gut
Mama kocht später was, ich kann jetzt nichts essen
Nein danke, ich hab keinen Hunger
Nein danke, ich mag nichts
Nein danke
Nein

Stunden vor dem Spiegel/Therapie
“Was siehst du?”
Fragt sie mich
Und ich weiß
Eigentlich
Was ich sagen muss
Um rauszukommen
„Schau hin“
Mach ich ja schon
Soll ich jetzt ehrlich sein?
Eher nein
Ich sperr mich lieber selber ein
Also
„Ich sehe…“
Mich
Hässlich
Und dick
Die Beine zu fest
Das Becken zu breit
Mir graut’s
Schon seit ner Ewigkeit
Ich will nicht hinsehen
Vielleicht geht’s dann weg
Wie das kleine Kind
Das glaubt, im Versteck
Wo es niemanden sehen kann
Ist es unsichtbar für jedermann
Aber das sag ich ja nicht
Weil die richtige Antwort ist
„Ich sehe
Mich
Ganz normal
Nicht dünn, aber auch nicht zu dick
Ganz hübsch
Echt okay
Kann mich gut anseh‘n
Wirklich“
Darf ich jetzt geh‘n?

Alle reden
Es gibt unzählige Bücher zum Thema Essstörungen, es gibt Filme, Videos, Dokumentationen. Es wird so viel darüber geschrieben und berichtet, dass man meint, alles darüber zu wissen. Nur verstehen…verstehen kann man es nicht.
Alle sagen immer nur zwei Dinge:
„Ja, die sollen eben einfach wieder essen??“
„Ich könnte nie magersüchtig werden, dafür liebe ich Essen viel zu sehr.“
War bei mir nicht anders, ich habe das auch stets gesagt – und genau so gemeint. Verstanden habe ich Magersüchtige nie, und um ehrlich zu sein, verstehe ich bis heute nicht, WARUM ich so geworden bin, WAS mit mir passiert ist. Ich weiß nur, dass ich irgendwann die zwei Wörter einfach und Essen/essen nicht mehr miteinander in Verbindung bringen konnte, das für mich einfach keinen Sinn mehr machte.
Denn ich wollte ja gesund sein. Ich wollte wie früher sein, unbeschwert und fröhlich. Ich wollte Essen genießen, es als etwas Schönes und nicht als etwas Notwendiges, Bedrohliches ansehen. Dabei sollte man eine Sache nie vergessen: Magersüchtige LIEBEN Essen. Wir sind obsessed. Wir lieben Essen wie wahnsinnig, aber gleichzeitig fürchten wir uns davor und hassen es auch in einer gewissen Weise.
Oft habe ich mir gedacht
Ich hasse, was Essen mit mir macht.
Dabei habe ich übersehen, dass Essen mich nicht fürchterlich fett macht, wie ich immer befürchtete. Sondern dass es mich leben lässt.

Vorher VS Nachher – und dann noch Zwischendrin
Vorher…ich weiß gar nicht mehr wirklich, wie ich war. Die Sache ist, ich WAR einfach. Habe zufrieden existiert. Mich nicht fertig gemacht wegen „zu dicker“ Arme, „zu viel“ Pizza oder was weiß ich für einem Blödsinn.
Nachher…ich bin anders. Zwar geht es mit bedeutend besser, zwar bin ich nicht mehr in Therapie und kann Essen wieder mehr genießen. Aber ich bin nicht mehr dieselbe. Mein 16-jähriges Ich, das vor der Krankheit existiert hat, ist verschwunden.
Zwischendrin…selbst-verschuldete Hölle. Leben in einer Hülle, die man hasst.  Zu einer Zeit, in der es mir nicht so gut ging, habe ich in mein Tagebuch notiert: „Vielleicht bleibt allein die Krankheit für die Ewigkeit.“ - das Zwischendrin ist  leider oft ohne jede Hoffnung.




„Sie“ gegen mich
Oft hatte ich das Gefühl, meine Essstörung sei kein direkter Teil von mir, sondern ein Fremdkörper, gegen den mein eigentliches Ich sich einfach nicht wehren konnte. Für mich war die Krankheit immer eine „Sie“ – ob wegen des Artikels (die Krankheit, die Essstörung etc.) oder weil ich sowieso ein Mädchen bin, weiß ich nicht. Fakt ist jedoch, dass sie für mich mehr und mehr als eigenständige Persönlichkeit, die irgendwie doch zu mir geworden war (oder zu der ich geworden war?), existierte. Das klingt direkt schizophren, war für mich aber auch eine Art Schutz, besonders, als ich mir endlich vorgenommen hatte, gesund zu werden. Indem ich die Krankheit nicht als Teil meiner selbst, sondern als unwillkommenen Eindringling betrachtete, fiel es mir leichter, mich nach und nach von ihr zu lösen.
Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass man mehr als seine Essstörung ist. Das fiel mir oftmals nicht leicht, so sehr habe ich mich trotz allem darüber definiert. Es ist sehr gefährlich, wenn man zu denken beginnt, dass man nicht man selbst, sondern dieses krankhafte Verhalten, dieser Selbst-Hass, dieser Kontrollzwang ist.
Oder besser: Dass man selbst dieses krankhafte Verhalten, dieser Selbst-Hass, dieser Kontrollzwang ist.
Man muss akzeptieren, was man hat – eine Essstörung. Einsicht ist der erste Schritt in Richtung Heilung. Aber das Schöne ist: Was man hat, kann man auch wieder loswerden. 

All meine Lieben
Magersüchtige ernten häufig Mitleid. Weil wir arm sind. Und so krank. Uns selbst so wehtun. Erst als ich schon eineinhalb Jahre lang betroffen war, habe ich kapiert, wem ich am meisten wehtue: meiner Familie, meinen Freunden – all jeden, denen ich wichtig bin und die mit ansehen müssen, wie ich hungere und lüge und verzweifle und einfach nicht gesund werden will.
Also nein. Kein Mitleid. Das heilt einen auch nicht. Kein Verständnis. Denn ganz ehrlich - verstehen kann es keiner außer man selbst. Das einzige, was mich wirklich aufgerüttelt hat, war die Wahrheit. Und die damit einhergehende Erkenntnis, dass ich nicht so weitermachen kann, wenn mir an meinen Lieben etwas liegt.

Gesund werden? Echt jetzt?
Obwohl ich eigentlich gesund werden wollte, habe ich mich von Anfang an auch dagegen gesträubt. Das klingt jetzt mal total unlogisch. Aber hier komme ich nun auf den Titel dieses Textes zu sprechen – die Essstörung mag ein black hole sein, ein dunkler Ort ohne vermeintlichen Ausweg, aber sie ist gleichzeitig auch sicher. Ich stelle meine eigenen Regeln auf, und alles ist in order, solange ich mich daran halte. Tja, wenn man gesund werden will, muss man all diese Regeln über Bord werfen. Deshalb erschien mir – so paradox es auch klingen mag – die Essstörung manchmal einfacher als Heilung. Und, ja, es ist natürlich immer einfacher, bei dem zu bleiben, was man kennt. Aber klüger oder gesünder ist es definitiv nicht. Nicht in diesem Fall. 

0 Kommentare :